Der Spielmann

Da liegt sie, die saure Stadt. Eingekesselt zwischen zwei explodierten Atomkraftwerken, stellt sie eine Absonderlichkeit im globalen Wettersystem dar. Die besonderen Umstände der starken Strahlung und die leichte Kessellage, saugen jegliche Feuchtigkeit an, die einige hunderte Kilometer an der Stadt vorbeizieht. Auf dem Weg in das Zentrum der Stadt zieht die Feuchtigkeit über offenliegende Brennstäbe und verstrahltes Land und wird langsam zu Gift. Im Zentrum der Stadt stoßen die feuchten Winde als Wolken aufeinander und bilden einen Wirbel, der die Sogwirkung verstärkt und für unaufhörlichen Regen und Wind sorgt. Sauren, verstrahlten Regen, der die Menschen von den Straßen in die Häuser und unter die Erde zwingt.

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Die Stadt ist ringförmig aufgebaut und durch einen breiten Fluss geteilt. Erst gibt es nur diesen einen Fluss. Doch als sich das Wetter nach der Katastrophe ändert und der Pegel steigt, werden einige Straßen kleine Flüsse. Das Wasser wird zur Säure. Und die Säure sucht sich seine Bahnen, frisst sich durch altes Mauerwerk, findet Spalten im porösen Erdreich, bricht Bahn durch alte Tunnel, durch die alte U-Bahn. Die kleinen Säureflüsse bilden die neuen Grenzen innerhalb der Stadt, in denen neue Viertel entstehen.

Es ist immer dunkel in unserer Stadt. Der dichte Nebel und der viele Regen blocken jedes Licht, die Sicht reicht kaum bis zum nächsten Häuserblock. Darum verändert sich kaum das Licht der Stadt, als die Sonne aufgeht. Die Straßen sind leer an diesem Morgen. Nur vereinzelte autonome Transporter schießen blinkend und mit einen Wahnsinnstempo über die breiten Straßen.

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In Neu-Agnes regen sich schon früh die Menschen. In der großen Markthalle, in der das Leben nie völlig zur Ruhe kommt, wird es langsam lauter. Reinigungsroboter schleichen in gemeinsamer Mission über den Hallenboden und sammeln den Müll des Vortages ein. Hier wird schon der erste Ladenverschlag geöffnet, dort stellt ein noch schläfriger Friseur sein Ladenschild mitten auf die Veranda, um seine Kunden auf seinen Service aufmerksam zu machen.

Einige Tore verbinden die Halle mit der U-Bahn, andere führen auf die Straße. Ein Händler schiebt indes seinen Wagen von der Straße in die große Halle. Heute ist er der Erste und er hat die freie Wahl. Er wird heute noch mehrmals den Standort wechseln. Wird mit seinem Stand an den Zelten am Hallenrand vorbei fahren und sich mit den Aufzügen auf die weiteren Ebenen fahren lassen. Abends, wenn er keine Geschäfte mehr macht, wird er seinen Wagen raffen und sich auf den Heimweg machen.

Jetzt stellt er sich auf halber Höhe zur Mitte der Halle auf, deaktiviert die Ionisierung und beginnt die Stützen auszuklappen, die nicht nur die Waren tragen werden, die er gleich herausholt, sondern auch so eine Art Leitplanke für die vorbeieilenden Massen sind. Weitere Händler kommen herein und stellen sich direkt an seinen Stand, um eine Phalanx zu bilden. Die Händler nicken sich kurz zu, und klappern beim Aufbau ihrer Stände, sie sind jetzt alle sehr beschäftigt. Mittlerweile haben so gut wie alle Shops und Ladenlokale auf den oberen Etagen ihre Lichter angemacht.

Das alles geschieht im Halbdunkel weniger aktiver Dioden und in vorausahnender Ruhe. Die Halle ist groß und düster, jedes Licht ist wie eine zusätzliche kleine Flamme in einer dunklen Höhle.

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Jetzt ist Nullsechshundert. Die Beleuchtung fährt hoch und sticht in die Augen, die Händler blinzeln. Die Tore öffnen sich und ein monsunartiger Strom an Menschen spült in die Halle, bahnt sich seinen Weg. Die Händler beginnen ihre Waren anzubieten und das tut jeder auf seine Art. Die Einen rufen laut ihre Produkte aus und preisen die Vorzüge. Andere nutzen rotierende Anzeigetafeln, die sie an Stäben in die Höhe strecken und auf denen sie versuchen mit möglichst grellen, ausgefallenen Animationen auf sich aufmerksam zu machen. Andere haben keinen festen Stand und schieben sich mit ihrem Bauchladen direkt in den Menschenstrom. Eben herrschte Ruhe. Jetzt schwillt der Geräuschpegel zu einem undurchdringbaren Lärm an.

Mittlerweile ist die untere Halle vollgelaufen und die Menschen strömen in die oberen Ebenen.

Unser Händler steckt nun inmitten hunderter Menschen und Händler. Wie viele hier hat sich sein Angebot über die Jahre erweitert. Tjan Ba, so heißt unser Händler, begann sein Geschäft mit dem Verkauf von Speicherzellen und säureresistenten Schirmen, Handschuhen und Überziehern. Heute verkauft er fast alles, was man auch in einem Supermarkt finden würde. Hygieneartikel, Elektrokram, aber auch Werkzeug-Kits, Proteinriegel, zugelassene Betäubungsmittel und Medikamente. Tjan Ba hat sich im Laufe der Jahre besonders auf Elektroschrott spezialisiert. Von Altmetall will er aber nichts wissen. Er nimmt nicht säckeweise Altmetall an, sondern Ware, die schon so gut wie nicht mehr funktioniert, aber aus dem seine Frau in der Werkstatt vielleicht noch etwas machen kann.

Als der morgendliche Ansturm verebbt – Ba hat mehrere Speicherzellen, einen Überzieher und allerlei Hygienekram wie Pflaster, Salben und Verbandsmaterial verkauft – öffnet er ein Fach in seinem Wagen, in dem er mehrere chinesische Glocken mit kaum lesbaren Schriftzeichen verstaut hat. Er hängt sie behutsam vor sich auf und beginnt mit einem dicken Schlegel eine Melodie zu spielen. So landen auch in verkaufsschwachen Minuten immer wieder ein paar Credits auf seinem Account.

Ba spielt seine Melodie. Nur wenige hören die Melodie. Aber wenn Ba spielt, dann scheint es, als ob die Schwingungen seiner Glocken sich in der ganzen Halle verbreiten und etwas mit den Menschen macht. Dann freuen sich auch die Händler, die unmittelbar neben ihm ihren Stand aufgebaut haben. Sein Spiel ist für sie ein wenig Friede und Harmonie in sauren Zeiten. Und die Kunden bleiben ein wenig länger stehen und genießen das Glockenspiel.

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„Hast du was für mich?“ Ba ist so vertieft in sein Spiel, dass er nicht merkt, wie ein Kunde an seinen Stand getreten ist. Er schaut auf und entdeckt eine kleinere Gestalt unter einem dunklen, triefendem Säuremantel. Das Gesicht ist nicht zu erkennen.

„Hast du was für mich?“ wiederholt die weibliche Stimme. Ba legt behutsam seine Schlegel beiseite. Die Glocken klingen noch immer von seinem Spiel. „Sei gegrüßt, was darf ich für dich tun?“ Die Gestalt tritt nervös von einem Fuß auf den anderen. „Bist du Tjan Ba? Man hat mir gesagt, dass du was für mich hast.“ Ba lächelt. Sonderauftrag. Selten, aber profitabel.

„Ja, ich bin Tjan Ba. Wie lautet der Code?“ Die Frau unter dem Säuremantel wirkt nun sichtlich nervös. Es dauert einen Moment, dann sagt sie: „Snowcrash.“

Ba schaut dort hin, wo vermutlich die Augen der Person sind, und sagt: „Es tut mir leid. Leider habe ich nichts für eine Snowcrash. Einen schönen Tag noch.“ Er nimmt seinen Schlegel wieder in die Hand und beginnt zu spielen. Dazu singt er dieses Lied auf chinesisch.

 

Alle Blumen in meinem Korb sind vernichtet.
Hört was ich euch singe,
Hört was ich euch singe.
Ich komme aus Nanniwan.
Nanniwan ist ein guter Ort,
Guter Ort.

Alle Pflanzen sind vernichtet,
Kein Tier überlebt diesen Himmel.
In den frühen Jahren dieser Stadt,
War das Leben auf den Straßen.
Es war die schönste unter den Städten.
Die schöne Stadt,
Ist heute ganz anders,
Ganz anders.

Nichts ist wie es früher einmal war.
Die schöne Stadt am Fluß wird zersetzt,
Sie lebt unter einer Glocke aus Gift,
Sie schwimmt auf einem See aus Säure,
Aus Säure.

Lasst uns von Nanniwan lernen,
Überall ist die saure Stadt,
Die saure Stadt.

Lasst uns die Erinnerung an Nanniwan bewahren und singen:
Die Brigade hat es uns vorgemacht.
Lasst uns voranschreiten,
Und den Vorbildern frische Blumen bringen.

 

Schon nach den ersten Zeilen war die Gestalt gegangen. Die Glocken hallten durch die große Halle, Tjan Bas Stimme traf mitten in die Herzen der Menschen, die für dieses Lied ein bisschen leiser wurden und lauschten. Und obwohl nur wenige verstanden wovon das Lied handelte, hatte Ba sie berührt.

 

23. Juli 2017, DROID BOY

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