In der heutigen Ausgabe der Süddeutschen (ja ich kaufe Zeitung aus Papier) befindet sich ein interessanter Artikel, der versucht Wikileaks zu deuten, mit zuhilfenahme des Soziologen Georg Simmels, eines fundierten historischen Verständnisses und einer politischen und gesellschaftlichen Weitsicht, die zu einer gepflegten Auseinandersetzung einlädt. Diese Einladung nehme ich gerne an.
Denn Thomas Steinfeld hat leider nicht verstanden, um was es bei Wikileaks geht. Das führt zu Schlussfolgerungen, denen ich hier einiges entgegenzusetzen habe. Hier wird eine Generation falsch verstanden, die Rolle der Medien fast gar nicht bedacht und die Verantwortung des Bürgers völlig unter den Tisch fallen gelassen.
Wie so oft sitze ich und genieße den Kaffee, die Zeitung, das Geschäftige um mich herum. All die Menschen, die sich durch die Kaufhäuser wursten, sich den alltäglichen Dingen widmen, während die Terrorangst fast schon vergessen, der Trubel um Wikileaks auf einem Höhepunkt angekommen ist.
„Enthüllt!“, lese ich auf Seite 11. Schon auf dem Titel war Assange zu sehen, wie er in einer schwarzen Limousine sitzt und noch bleicher wirkt wie sonst.
Der Autor des besagten Artikels besitzt einen großen Wissensschatz, das wird mir schon nach der Unterüberschrift klar. Es fällt ihm leicht den Leser mit einem Simmel Zitat zu beeindrucken. Die etappenweise Veröffentlichung der diplomatischen Depeschen degradiert Steinfeld zu einer Verschwörung aus einem Verrat aus „einer zweiten Welt neben der Offenbaren“.
Wikileaks wolle Verschwörungen aufdecken, benutze aber selbst die Methode der Verschwörung. Steinfeld fügt an, das es zumindest die USA so sehen würde. Da gebe ich ihm recht. Doch auch wenn die USA sich momentan so verhält, bedeutet das noch nicht, das es auch wirklich so ist. Das Missverständnis dieser Nation (oder deren politischen Führung in Teilen) ist ein Armutszeugnis.
Den Text lese ich mehrere Male an diesem frühen Nachmittag, im Ganzen und auch in einzelnen Abschnitten. Meine Tischnachbarn wechseln ständig. Ein älteres Ehepaar, über ein IPhone gebäugt, vor mir, hinter mir eine Mutter mit Kinderwagen. Die asiatische Mitarbeiterin räumt leere Tassen ab, während nur 20 Meter weiter auf einer Bühne ein Kinderchor polyphone Einstimmigkeit demonstriert.
Da setzt Steinfeld an eine Schizophrenie in der Wikileak’schen Vorgehensweise aufzudecken. Wikileaks lege es auf den Unterschied zwischen der öffentlichen und geheimen Person an. Der Trugschluß: Was da veröffentlicht wird, wisse man sowieso schon. Die Politiker sind nicht vertrauenserweckend und sie halten auch nicht was sie versprechen. Ganz klar, das sie da hinter vorgehaltener Hand was anderes sagen, als sie es in der Öffentlichkeit tun.
Doch hier unterliegt der Autor dem gleichen Trugschluss, und verfällt der Versuchung, die geleakten Dokumente auf das zu reduzieren, was eben von den Medien zunächst als Aufreißer verwendet wurde: Die Teflon-Merkel, der agressive Westerwelle. Tiefer steigt Steinfeld während des gesamten Artikels nicht ein. Dabei enthalten die Depeschen weit mehr. Es geht da auch gegen Russland, über Waffenschmuggel, den Weltklimarat und vieles mehr, was so noch gar nicht wahrgenommen oder veröffentlicht wurde. Die Sache um Wikileaks ist auch ein Medienlehrstück.
Natürlich wurden Depeschen auch vom Tagesgeschehen beeinflusst, was an der Ähnlichkeit der Berichterstattung des Landes zu erkennen ist, aus dem die Depesche stammt. Aber hier ist nicht die eigentliche Brisanz der Depeschen, wovon der Autor aber ausgeht. Und hier zieht er einen flachen Schluss, denn er nimt an, es gehe nur um solche Belanglosigkeiten.
An dieser Stelle bekomme ich einen interessanten (das meine ich wirklich so) Exkurs in die Epoche des Rokoko, die Hofkabale. Und die Literatur des 18. Jahrhunderts darf nicht unerwähnt bleiben.
„Wikileaks ist die Wiederbelebung des anachronistisch gewordenen Glaubens an die Verschwörung als eigentlicher Triebkraft der Politik.“
Ich bin mir sicher, das es nicht wenige Menschen gibt, die denken das sei so. Hier verschwört sich eine Gruppe von Geeks, oder gar Spionen gegen den Staat als solchen. Doch bezweifle ich, das die neuen Generationen das so sehen. Sie sind längst über das Denken hinaus, das so typisch war für den kalten Krieg, seinen Spionagegeschichten und intriganten CIA Agenten. Sie sehen die Welt nicht mit den Augen der guten alten Welt von Gut und Böse.
Sie haben jetzt Bewusstsein für so viel mehr gobale Zusammenhänge, sei es die Ausbeutung der Drittwelt-Länder wenn es um Rohstoffe geht, bis hin zu Inhaltsstoffen der Nahrungsmittel. Es ist die Generation, die Verantwortung übernehmen will und dafür aber auch mitsprechen muss. Sie haben Meinungen und gehen dafür auf die Straße; Gorleben und Stuttgart. Sie kämpfen für ein freies Internet, für Medienfreiheit und haben ein globales Bewusstsein. Sie sind die Bürger eines Staates, der global vernetzt ist, wirtschaftlich und gesellschaftlich.
Steinfeld sieht das schon richtig: Diese Verschwörungstheorien sind romantisch verklärt. Unsere Generation sieht das aber realistisch. So realistisch wie keine Generation zuvor, wage ich zu behaupten. Und das können wir auch. Warum? Weil wir so viele Informationen besitzen wie nie zuvor. Und wir haben ein Recht darauf.
Zuletzt halte ich noch für erwähnenswert, welchen Vorwurf der Autor Wikileaks macht. Hier zeigt sich am deutlichsten, das noch nicht zur Gänze verstanden wurde. Wikileaks interessiere sich nicht für die Finanzkrise in Europa, nicht für die Großmacht China, weil es sich nicht so schön in eine Verschwörungstheorie packen lässt.
Wikileaks interessiert sich für gar nichts. Es ist aufgrund seiner Regeln ein Apparat, der eine Funktion ausführt. Es geht nicht darum eine Verschwörung aufzudecken. Es geht zunächst darum Informationen verfügbar zu machen. Das ein Assange den Versuch unternimmt auf Pressekonferenzen Zusammenhänge herzustellen, Interpretationen anbietet, kann kritisiert werden. Und vermutlich wäre es klüger gewesen sich im Nachhinein deutlich auf die Grundfunktion zu konzentrieren. Doch ist es nunmal so, und so wurde die Jagd auf ihn eröffnet.
Der Artikel beginnt wie er begonnen hat: Simmelig:
„Eine Spannung, die im Augenblick der Offenbarung ihre Lösung findet.“
Wenn der Reiz des Unbekannten verflogen, die Sensationsgier der Medien und des Volkes befriedigt wurde, ist alles wieder wie zuvor, oder ähnlich. Und vielleicht hat er da recht. Unsere Generation sträubt sich aber gegen eine solche Einstellung und Sichtweise. Die im Alter kommende Gleichgültigkeit gegenüber scheinbar gesellschaftlichen Veränderungen steht im Kontrast zur euphorischen und begeisterungsfähigen Jugend.
Nicht abstreiten lassen sich aber offensichtliche Entwicklungen. Die Verfügbarkeit von Informationen, die öffentlich sein sollten, weil sie von der öffentlichen Hand bezahlt wurden, betrifft ja nicht nur diplomatische Depeschen. Es geht da ja schon um die Daten, die meine Gemeinde sammelt. Die moralische Verantwortung von international agierenden Politikern und Diplomaten unterscheidet sich nicht von der in meiner Gemeinde, wenn es um Schulen geht, oder wenn mein Bundesland ein neues Infrastrukturprojekt plant.
Was wir fordern sind Freiheiten in den Medien und Zugang zu Informationen. Wir wollen moralische Volksvertreter, die nach einem nachvollziehbaren Ethos transparent Entscheidungen fällen. Ist das denn zu viel verlangt?
Wenn die Diskussion um Wikileaks und dieser Artikel uns zu diesen Überlegungen geführt haben, dann war das eine gute Sache.
Die Zeitung nahm ich dann mit nach Hause, für gewöhnlich lass ich sie liegen. Durch den Schnee stapfend, ginge mir schon die Sätze durch den Kopf, die ich dann so dann doch nicht schreiben sollte. Es kommt dann oft auch anders als man es sich denkt.
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Der Artikel „Enthüllt“ erschien am 8. Dezember 2010 in der gedruckten Ausgabe der Süddeutschen Zeitung und unter dem Titel: „Inszenierung der politischen Fratze“ auf sueddeutsche.de.
Wikipedia: Thomas Steinfeld
Thomas Steinfeld auf sueddeutsche.de
Spiegel.de: Die Botschaftsdepeschen
Wikileaks