Es war einmal, irgendwo in einer der vielen vergessenen Stadtviertel einer Stadt, die zwischen zwei zerstörten Atomkraftwerken langsam vom sauren Regen zerfressen wurde, da stieg eine fliehende Monitor-Service-Angestellte aus der Transbahn aus. Sie eilte zum nächsten Gleis, nicht ohne sich ängstlich umzusehen. Denn sie wähnte noch immer ihren Verfolger hinter sich. Schon kam die nächste Trans, mit der sie einige Stationen fuhr, bis sie erneut umstieg. Snowcrash fuhr und fuhr. Und als ihr Gefühl ihr sagte, dass sie einigermaßen sicher war, erst dann beschloss sie, sich eine Unterkunft für die Nacht zu suchen.
Mit triefendem Mantel trat sie in die leere Lobby eines Hotels. Snowcrash vermutete, dass es heruntergekommen und billig genug war, dass man sie hier weder suchen, noch einen horrenden Preis verlangen würde. Als sie zum Schalter lief, knisterte es unter ihren Schuhen. Der saure Regen und der Dekontaminationsteppich reagierten miteinander, kleine elektrische Ladungen entstanden, die funkelten und einen Geruch von Ozon erzeugten.
Snowcrash stellte sich vor den Schalter, als eine Kamera oberhalb von ihr auf sie zuschwenkte. Aus einem Lautsprecher auf dem Tresen ertönte eine Stimme: „Ja, hallo? Was darfs‘ sein? Ein Zimmer für zwei oder drei?“ Es rappelte und knisterte aus dem Lautsprecher. „Oder vielleicht doch eher etwas ausgefalleneres? Wie wäre es mit unserem Erotik-Paket mit Pipapo und Co?“ Irgendetwas fiel dort zu Boden, wo die Stimme herkam. Der Mann am anderen Ende fluchte. Dann musste er es zum Monitor geschafft haben, auf dem das Bild der Kamera angezeigt wurde, die auf Snowcrash zeigte. „Oh, oder doch nur ein Zimmer für eine, äh, eine Service-Angestellte? Oder hat dich einer unserer Gäste bestellt? Unmöglich! Unsere Monitore …“
Snowcrash zog eine Braue nach oben und unterbrach den Mann. „Einfach nur ein Zimmer mit Bett für eine Nacht.“
„Auch das ist in unserem Etablisment kein Problem. Wir sind bekannt in unserem Veedel, das wir alle Wünsche erfüllen.“
Die Sonderbarkeiten der lokalen Hotelerie waren Snowcrash egal. Sie wollte einfach nur ein Zimmer. Ganz ohne Pipapo. Aber mit Bett.
„Wie wünschen die Dame einzuchecken?“ Knisterte es aus dem Lautsprecher. Snowcrash zog ihr Pad heraus, aktivierte Omnipay und legte es auf den Tresen. „Einen Moment bitte.“ Schepperte es aus dem Lautsprecher. Snowcrash kaute nervös auf ihrer Unterlippe herum.
„Also Entweder ist Omnipay down, was nicht völlig unwahrscheinlich ist, wenn wieder irgendeine jecke Hackergruppe meint, die Freiheit der Welt mit dem Hacken eines Serviceproviders zu verteidigen. Oder deine ID ist gesperrt. Hast du vielleicht noch eine andere Möglichkeit einzuchecken?“
Snowcrashs Magen zog sich zusammen. Das untrügerische Zeichen, das etwas nicht stimmte. Entweder waren die Omnipay-Server wirklich down, oder ihre ID war gesperrt. Das würde der Mann am Empfang aber sehen. Snowcrash vermutete, das er sie einfach nicht verärgern wollte, was bedeutet hätte, das sie vielleicht wütend das Hotel verlassen und sich der einzige Gast des Tages im Säureregen zersetzen würde.
Snowcrash tippte auf ihr Pad und öffnete einen anderen Provider. Aber auch der funktionierte nicht.
„Tut mir leid die Dame. Aber wenn du nicht ein paar Credits auf einem Stick dabei hast, wird das wohl nichts.“ Snowcrash vermutete das Schlimmste. Man hatte ihr nicht nur das Appartment genommen, sondern sämtliche Konten gesperrt. Panik stieg in ihr auf. Sie steckte das Pad wieder ein, machte auf dem Absatz kehrt und verließ das Hotel. Sie vermisste die Zeit, als man noch mit Münzen und Scheinen zahlen konnte. Die waren nur leider nicht Säureresistent.
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Draußen flimmerte das Hotelschild und der Regen prasselte auf ihre Kapuze. Snowcrash ließ ihren Tränen freien Lauf, denn sie wusste nicht wo sie hin sollte. Konnte sie Luisa anrufen, oder wurde ihre Leitung überwacht? Sie brauchte dringend ein öffentliches Terminal. Aber ohne ein paar Credits, konnte sie nicht einmal eine Nachricht hinterlassen. Sie traute sich auch nicht mit ihrem Pad auf das öffentliche Netz zuzugreifen. Snowcrash fluchte. Sie hatte eben versucht mit Omnipay zu bezahlen. „Snowcrash, du bist so dumm!“ Sie weinte noch etwas mehr und hasste sich für ihre Dummheit.
Mit schnellen Schritten ging sie die Straße herunter. Wohin? Das war ihr egal, sie musste einfach nur einen Schritt nach dem anderen machen, dann würde ihr schon einfallen, was als nächstes zu tun sei.
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Der saure Regen war nicht schon immer da gewesen. Als nach den großen Revolten vor einigen Jahren die Rebellen sich in die Kontrollsysteme der Atomkraftwerke hackten und einen Störfall verursachten, der mehrere Explosionen zur Folge hatte, waren nicht nur Teile der Stadt unbewohnbar geworden. Die Natur hatte sich ihre Bestrafung für die Dummheit der Menschen parat gelegt und versuchte nun mit einem nicht enden wollenden Regen das Gift aus der Luft zu waschen. Kurz nach den Störfällen war es beinahe völlig unmöglich gewesen länger als ein paar Minuten nach draußen zu gehen bis sämtliche Kleidung vom Körper geätzt war. Als die ersten Händler aber säureresistente Schutzkleidung anboten, war der Weg zur Transbahn nicht mehr lebensgefährlich. Mittlerweile konnte man dank smarter, ionisierter Schutzkleidung mehrere Stunden im Regen verbringen, wenn man denn das unbedingt wollte. Der saure Regen hatte auch zur Folge, das es nichts mehr Grünes außerhalb von Gebäuden gab, das Menschen noch mehr als sonst mit ihren eigenen Transportmitteln fuhren und sehr selten auf der Straße anzutreffen waren.
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Snowcrash wäre wie immer alleine unterwegs gewesen. Aber hinter ihr waren plötzlich Schritte zu vernehmen. Als sie einmal rechts um die Ecke bog, schaute sie sich wie beiläufig um und erkannte ihren Verfolger wieder.
Snowcrash fing an zu rennen und ihre Schritte hallten in der Häuserschlucht wider. Als ihr Verfolger auf ihre Straße abbog, kamen seine Schritte hinzu. Auch er fing an zu rennen und rief: „Frau XXXXX, es ist zwecklos! Ich kriege dich auch so!“ Ein paar Tropfen Säureregen benetzten trotz tief hängender Kapuze ihr Gesicht. Sie fluchte und ionisierte den Mantel, der sie zwar hell erleuchtete. Aber es war besser gut gesehen zu werden, als sich vom Regen das Gesicht wegätzen zu lassen. Sie zog ihr Pad heraus und warf es einfach zur Seite. Vermutlich war es verwanzt. Der Regen würde es binnen Minuten zerstört haben.
Als sie einmal erneut abbog, um dem Verfolger zu entkommen, wähnte sie ihn schon sehr nah. Ihre Kräfte gingen zu neige und lange würde sie nicht mehr durchhalten. Da hörte sie einen Schrei und die Schritte hinter ihr verstummen. Sie wagte es sich kurz umzublicken, als sie ihren Augen nicht traute. Um ihren Verfolger herum schwirrten drei kleine Bots, die immer wieder auf ihn herabsausten und mit kleinen Elektroschocks dem Verfolger zu schaffen machten. Konnte ein Bot eine erfolgreiche Attacke ausführen, schrie der Verfolger auf. Dieser hatte in der Zwischenzeit einen Knüppel gezogen und schlug um sich.
Snowcrash deaktivierte die Ionisierung und zwängte sich keuchend zwischen zwei Tonnen, so dass sie das Szenario beobachten konnte.
Einer der Bots hatte bereits einen Schlag mit einem Knüppel abbekommen und konnte sich kaum noch in der Luft halten. Ein zweiter war mit ihm zusammengestoßen und gab ihm den Rest, kam aber selber einigermaßen heil davon. Der Dritte schien einige Meter oberhalb die Szene zu beobachten, ließ sich jetzt aber auf den Verfolger fallen und spritzte gleichzeitig eine leuchtende Flüssigkeit auf den Verfolger. Ein anderer Bot schoss eine Art Minirakete ab. Und als die Rakete den Körper des Verfolgers traf, gab es eine kleine Explosion und in Verbindung mit der Flüssigkeit eine größere Verpuffung, die sowohl den Angreifer auf den Boden warf, als auch die Bots meterweit davonwirbelte. Snowcrash musste sich die Hand vor die Augen halten, so grell war der Blitz.
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Als sie wieder aufsah, erkannte sie den Verfolger am Boden liegen. Ihn bedeckten blaue Flammen, die langsam vom Regen gelöscht wurden. Der Körper dampfte und zuckte und gelber Dampf stieg dort auf, wo Regen ungehindert auf Haut traf.
Ein Bot schien völlig zerstört zu sein, während die anderen beiden zuckend und funkenstobend am Boden lagen.
Snowcrash hatte noch nicht ganz verstanden, was sie gerade gesehen hatte, rappelte sich aber auf und wollte davonlaufen, als ihr einfiel, dass sie noch immer ihren kleinen Reparaturgürtel dabei hatte. Was auch immer das für Bots waren und wer auch immer sie zu ihrer Rettung geschickt hatte: Sie würden sie nicht nur gerettet haben, sondern auch als hervorragende Handelsware dienen. Jeder Credit war in ihrer Situation wichtig. Und wer weiß, vielleicht war sie auch in der Lage einen wieder zusammen zu flicken. Sie war nicht umsonst Monitor-Service-Angestellte geworden. Sie wusste wie man Geräte wieder zum Laufen bringt.
Snowcrash drehte sich um und näherte sich vorsichtig dem reglosen Körper. Blut war da keins. Hier und dort schaute etwas Haut hervor, die schon Zersetzungsanzeichen zeigten. Vielleicht war der Mann nur bewusstlos.
Snowcrash scannte die Umgebung und stellte sicher, das sie niemand bobachtete. Dann nahm sie einige Binder von ihrem Gürtel und machte sie an den Überresten der Bots fest. Mit einer Zange hielt sie alle Binder zusammen und zog so die überraschend schweren Bots in einem Bündel hinter sich her.
Einige Straßen weiter in einer Gasse, fand sie hinter ein paar großen, alten Tonnen einen kleinen überdachten Platz. Jetzt dienten sie Snowcrash als Sichtschutz. Sie ließ sich in einen Haufen Folie fallen, der dort im Laufe der Zeit aufgehäuft worden war. Dieser nahm sie sacht auf und umhüllte sie fast komplett.
Wie in Frau Holles Bett, dachte sich Snowcrash, und wusste eigentlich gar nicht mehr, wer genau das war. Als sich ihr Atem beruhigt hatte und ihre Muskeln nicht mehr ganz so brannten, überkam sie die Müdigkeit und sie schlief ein.
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Als Snowcrash aufwachte, fühlte sie sich, als hätte sie am Tag zuvor zu viel getrunken. Ihr Mund war staubtrocken und ihre Augen brannten. Irgendetwas stieß ständig gegen ihren Stiefel. Als sie herunter sah, entdeckte sie am Fuße des Folienberges, aus dem im Grunde nur ihre Füße herausschauten, einen der beschädigten Bots gegen ihren Stiefel stoßen. Snowcrash rappelte sich auf und sah sich ihre Beute mal genauer an. Zuerst nahm sie sich den noch aktiven vor.
„Na, Kleiner, was fehlt dir?“
Nach wenigen Minuten rebootete sie das Betriebsystem ihres kleinen Retters. Die Rotoren sprangen an und der Bot stand vor ihr in der Luft. Dioden leuchteten auf, der Bot klappte hier etwas auf und zu, in seinem Inneren surrte und klickte es. Der Bot führte einen Systemcheck durch. Snowcrash arbeitete schon am zweiten Bot, der ein wenig schwerer zu reparieren war. Dafür nutzte sie den zerstörten Bot als Ersatzteillager. Als auch der so weit war, aktivierte sie den Bot. Nun standen beide vor ihr in der Luft.
Snowcrash empfand in dem Moment so etwas wie Befriedigung. Zumindest etwas, was sie hatte tun können.
„Okey, Bots. Statusmeldung bitte.“
Obwohl sie nicht reagierten, wie man es heutzutage von robottischen Systemen erwarten würde, reagierten sie wenigstens irgendwie auf ihren Stimmbefehl. Sie drehten sich zu einander, tauschten die Positionen und schienen eher untereinander auszumachen, wer jetzt auf Snowcrashs Befehl antworten oder besser gesagt, reagieren würde.
Eine Statusmeldung bekam Snowcrash aber dennoch nicht. Statt dessen öffnete sich eine kleine Klappe an einem der Bots und ein Stick plumpste vor ihr auf den Boden. Die beiden Bots sausten in die Höhe und verschwanden im sauren Dunst des dunkelgrünen Himmels.
Verdutzt blickte Snowcrash auf den Stick. Dann hob sie ihn auf und steckte ihn ein. Ich brauche ein Pad, um diesen Stick auszulesen, dachte sie sich. Und einen Kaffee.
Als sie aus der Gasse trat, hatte es für einen kurzen Moment aufgehört zu regnen. Da öffneten sich hier und da ein paar wenige Türen und Fenster, Leute schauten heraus und blinzelten gegen die grellen Straßenlaternen.
16. Oktober 2015, DROID BOY
Mein herzlicher Dank geht an Saskia Overath für die wunderbare Illustration, die sie für diesen Teil von ACID wieder mal entworfen hat!