Wie ein Spiegel-Titel über KI nicht sein sollte

Am Abend des dritten März lese ich einen Tweet von Patrick Beuth, Redakteur im Ressort Wirtschaft/Netzwelt des Spiegel, in dem er die Titelstory des nächsten Spiegel ankündigt. 15 Seiten zum Thema Künstliche Intelligenz. Gerade noch rechtzeitig, bevor der Hype wieder abflaut. Getriggert hat mich besonders das Bild zum Tweet, eine Vorschau auf den Titel der Totholzausgabe. Darauf: Die Büste einer generisch wirkenden Roboterdame, wie sie jeder mit einem der aktuellen Generatoren produzieren könnte. Darüber liegt der Schriftzug: „Die neue Weltmacht – Wie ChatGPT und Co. Unser Leben verändern“. Es ist diese Rhetorik, die mich regelmäßig triggert. Und der Grund dafür ist so einfach wie langweilig: Es ist schlicht Marketing-Bullshit, den ein journalistisches Medium hier übernimmt. Das geht so nicht.

Da ich ein Fan des Papiers bin, renne ich also in der darauffolgenden Woche in den Laden und besorge mir den Spiegel. Als ehemaliger Binge-Leser des gedruckten Spiegels – ich hatte früher Türme aus Spiegel und bezahlte noch fünf Mark – freue ich mich wieder einen Grund gefunden zu haben, das Ding zu kaufen. Im Lesesessel mache ich mich über das Papier her.

Weltpolitik, die Wirtschaft, ein Listicle und Kunst

Vier Texte machen die Titelstory der 10. Ausgabe dieses Jahres aus: In „Wettlauf der Gehirne“ soll das Thema legitimiert werden. In einer Charade aus Silicon Valley, Europa, dem ängstlichen Deutschland und China soll eine bedrohliche Situation dargestellt werden. Die Aussage: Das dürfen wir nicht verpassen! In „Jobs zu schützen wäre ökonomischer Wahnsinn“ wird Andrew McAfee interviewt. Eigentlich geht es um die Fortschrittsfrage. Wer bei McAfee an ein Antivirus-Programm denkt: Das war John, und hat nichts damit zu tun. In „Sechs Dinge, die man braucht, um eine KI zu bauen“ lernen wir etwas über die Abhängigkeiten und Ressourcen, die bei der Entwicklung KI-basierter Produkte bestehen. In „Wie Maschinen träumen lernen“ lernen wir drei Künstler:innen kennen, die mit Bild, Ton und Text arbeiten.

Was besonders nervt an dieser Ausgabe ist der Leitartikel. Er versucht relevant und mondän zu sein, reiht aber im Grunde nur Narrative aneinander, die wir alle irgendwo schon mal gelesen haben. Zugespitzt auf den Titel „Wettlauf der Gehirne“, der die Konkurrenz der politischen Systeme beschreiben soll, als auch den zwischen Mensch und Maschine. Ich verstehe das, aber es führt in die Irre. Kein Gehirn wetteifert mit der Maschine. Und der Kampf zwischen den Chinesen und der westlichen Welt wurde nun auch schon allzu oft strapaziert. Also hier nur eine weitere Iteration der alten Konflikte? Es scheint so.

Silicon Valley als Legitimation

Der Artikel beginnt mit einem Besuch bei Guido Appenzeller, einem ehemaligen Business-Fuzzi von Google. Ein nicht näher benannter Redakteur war bei ihm im Silicon Valley und konnte bereits einen Blick auf ChatGPT werfen, bevor es weltweit zum Hype wurde. Alles klar, ihr habt den Silicon Valley Fame, ihr habt nun das Recht weiter über das Thema zu sprechen. Wir lesen also weiter. Dass es sich bei Appenzeller um einen Techno-Apologeten des mehr als umstrittenen Investment-Fonds Andreessen Horowitz handelt, bleibt außen vor. A16z, wie Andreessen Horowitz abgekürzt wird, steht für neoliberalen Hyperkapitalismus, der nicht davor zurückscheut, Trump zu supporten, den Cryptohype auszunutzen und von Medien erwartet, bitte nur die Marketingbotschaften zu wiederholen. Das tut der Spiegel dann hier auch brav, wiederholt die Lobpreisungen einer Technologie, ohne auch nur im Ansatz zu reflektieren, was hier eigentlich gerade passiert: Ein Apologet der KI-Technologie beschwört den Hype, um dafür zu sorgen, dass die Invests in dem Bereich möglichst viel Rendite bringen. Ben und Mark liken das.

Das Hirn! Maschinenhirn, Menschenhirn, Amerikanerhirn, Chinesenhirn. Und trotzdem immer noch zu wenig Hirn.

Weiter geht es so: „Die Macht der Maschinen und die mögliche Ohnmacht von Menschen.“ Das ist ein Satz, der die Schicksalshaftigkeit des aktuellen Hypes beschreiben soll. So als ob wir nicht die Macht hätten, denn die Maschinen würden das tun. Darauf zielt auch der Titel des Magazins „Die neue Weltmacht“ in aller Zweideutigkeit ab, ohne es arg viel konkreter zu machen. Ist denn Künstliche Intelligenz eine eigenständige, autonome Entität, vor der wir Angst haben müssen? So ziemlich alle Wissenschaftler, die sich in dem Bereich betätigen, verneinen das. Wir sind sehr, sehr weit davon entfernt. Und trotzdem wird mit der Angst gespielt. Diese Maschinen, von denen hier gesprochen wird, sind zudem nicht einfach so da. Dahinter stehen milliardenschwere Unternehmen mit Profitabsichten. Und nicht eine unverhinderbare Macht, die nun über uns hinwegrollt. Ich halte diese Art der Darstellung schlicht für falsch, fahrlässig und schlampig. Sie entspricht nicht den Fakten. Die würden nämlich eigentlich sagen: Das ganze läuft nur, weil viele sehr gut bezahlte und viele sehr schlecht bezahlte Menschen an diesen Maschinen arbeiten. Alles, was vom Menschen gemacht wird, kann reguliert werden.

Es sei ein Wettrüsten um die beste aller künstlichen Intelligenzen entfacht. An dieser Stelle zeigt sich die Schwammigkeit des Begriffs KI. Das Spektrum reicht von der automatischen Statistik und Mustererkennung über die allgemeine Künstliche Intelligenz bis hin zur Produktentwicklung. Ein Produkt, das einen Algorithmus verwendet, dass durch einen automatischen Prozess erstellt wurde, heißt hier KI. Und es wäre genau jetzt der Moment gewesen, das aufzudröseln. Der Leser wäre nach der Lektüre des Artikels in der Lage gewesen Narrative besser zu verstehen und zu hinterfragen: Was meinen die hier genau? Da es aber dem Duktus des Artikels dient, bleibt es unaufgedröselt.

Es kommen weitere Stimmungsbilder: Die US-Giganten würden sich auf offener Bühne duellieren. Wie Steve Jobs Apple rettete, so sollen nun Sergey Brin und Larry Page Google aus dem Schlamm ziehen. Was für ein verbogener Vergleich. Wenn überhaupt ein Vergleich bemüht werden wollte, dann eher zwischen Apple und Nokia. OpenAI als Disruptor des großen Suchmaschinen-Giganten Google. Klar, Microsoft-Boss Nadella hat in einem Interview mit The Verge davon gesprochen Google zum Tänzeln zu bringen. Gefällt der Presse, kann man ein Duell der Giganten stilisieren. Das eigentliche Duell findet dabei an ganz anderer Stelle statt, von dem hier aber überhaupt nicht die Rede ist: Zwischen den USA und der EU, die versuchen ihre GreenTech-Startups mit einander überbietender Fördertöpfe bei Laune zu halten.

Sieht in einem Magazin immer gut aus: Der CEO von Microsoft und von Google.

Der Artikel spricht davon, dass es schon peinlich genug sei, dass OpenAI auf OpenSource Software aus dem Hause Google basiere. Das ist nicht peinlich, sondern beabsichtigt. Genau darum hat Google das veröffentlicht, damit Dinge entwickelt werden, die Google nicht sieht, für das es keine Kapazitäten hat, damit die Wissenschaft sich damit beschäftigen kann, weil es sich um vermutlich relevante Zukunftstechnologie handelt. Das ist nicht peinlich, sondern sollte Standard sein. Auch Twitter und Facebook sollten ihre Algorithmen veröffentlichen. Denn der Einfluss ihrer Algorithmen kann Wahlen beeinflussen. Wenn KI-Technologie wirklich so mächtig ist, wie hier ständig betont wird, dann hat Google hier alles richtig gemacht. Das als peinlich zu bezeichnen, ist peinlich.

Es wird der Mahner und ehemalige Google-Chef Schmidt zitiert, um auf die Bedrohung aus China hinzuweisen. Hier ist tatsächlich der einzige Anlass kriegsrhetorische Vokabeln zu nutzen. Denn es geht um die Bedrohung von kritischer Infrastruktur durch Software-Attacken. Das bleibt rudimentär.

Der Artikel schwingt sich zum Ende hin auf die Botschaft ein, dass das Zaudern Europas brandgefährlich sei. Hier wird ein stürmischer Digitalminister verklärt, der sich für KI und seine Potentiale einsetzt. Aber es bleibt unklar, warum Europa hinterherhinkt. An Wissing kanns ja nicht liegen. Dazu wird das Narrativ jener Technoliberaler aufgewärmt, nachdem Regulierung Innovation verhindere: „Niemand steckt gern Geld in eine Branche, die schon Morgen wieder kaputt reguliert werden könnte.“ Das bleibt unkommentiert. Dabei müsste es sich doch mittlerweile herumgesprochen haben, dass Regulierung genau das Gegenteil bewirkt. Beispiel: In der aktuellen Version der Ökodesign Richtlinie der EU fällt eine Ausnahme für 8K-Monitore weg. Bislang durften Monitore und TVs in der Größe so viel Strom verbrauchen, wie sie wollten. Ab sofort trifft auf sie die gleiche Berechnungsformel zu, wie sie für alle anderen Displays gelten. Mit welchem Effekt? Statt alle 8K-Geräte vom Markt zu nehmen, haben sich die Hersteller was einfallen lassen. Samsung musste sich mit dem Eco-Modus einen Workaround einfallen lassen. LG hingegen entwickelte Mikrolinsen, die einen technischen Effekt ausgleichen, der dazu führt, dass weniger Saft durch die Pixel fließen muss. (ich berichtete hier) Eine Innovation, die jetzt auch auf kleinere Auflösungen und Pixeldichten heruntertröpfeln kann, und damit das Potential hat sehr viel mehr Strom einzusparen. LG hat einen Wettbewerbsvorteil. Wenn bisherige Regulierungen zur Eindämmung der Übermacht großer Konzerne dazu geführt haben, dass diese noch größer wurden, dann liegt das ausschließlich daran, dass die Regulierung korrumpiert wurde und eigentlich nutzlos war. Hätte man sich also sparen können.

Die empfehlungswürdigen Artikel

Ich springe zum Interview mit Andrew McAffee. Dieses Interview ist durchaus lesbar. McAffee antwortet fachlich gut. Bisherige Innovationen führten eher dazu, dass mehr Arbeit entstanden ist. Ich füge die Erklärung hinzu: Denn wäre es nicht so, müssten aufgrund aller Innovationen der letzten 100 Jahre ja niemand mehr Arbeit haben. Deutschland ist in Vollbeschäftigung.

Ein Aspekt geht mir aber auch hier auf den Wecker. Die Fragen des Spiegels zielen wieder auf den Kampf zwischen Mensch und Maschine ab. Müssten Programmierer nicht produktiver sein als eine KI, um überhaupt mit der KI mithalten zu können und noch relevant zu sein? Hier zeigt sich, wie wenig Wissen über Produktentwicklung vorhanden ist (Wobei es beim Spiegel ja eine durchaus spannende Produktentwicklungsabteilung gibt, ich berichtete hier über den Relaunch). Hier zeigt sich, dass eine differenzierte Aufdröselung dessen, wovon wir hier eigentlich sprechen, angemessen gewesen wäre. Die Frage nach der Effizienz des Programmierers gegenüber der KI ist in etwa so, wie wenn ich sagen würde: Ein Zimmermann müsse produktiver sein als der Hammer, weil der Hammer mehr Nägel einschlägt als der Zimmermann. Das ist natürlich Quatsch. Eine KI fordert geradezu danach, dass viele Entwickler sich rund um die Uhr um ihn kümmern. Eine KI ist Teil eines Produktentwicklungsprozesses. Selbst wenn die KI genutzt wird, um Code zu generieren, muss dieser Code auf Fehler getestet, implementiert und weiterentwickelt werden, wenn zum Beispiel Usertests zeigen, dass das Produkt, ein Feature, die Farbe oder Position des Knopfs noch nicht passen. Dieses Wissen ist so wichtig, will man gute Fragen stellen. Ansonsten bleibt man mit seinen Artikeln halt an der Oberfläche.

Kleine Infografiken erklären ganz gut wie KI entsteht.

Ich springe zum Artikel „Sechs Dinge, die man braucht, um eine KI zu bauen“. Der beste Artikel, denn er erklärt erstmals, was es eigentlich alles braucht. Neu für mich ist eine konkrete Nummer für den Energieverbrauch. Ich fand es schon beim letzten Jahr im Zuge des Cryptohypes bemerkenswert, wie zum Beispiel Dirk Songuer von Microsoft den Verbrauch von Crypto-Projekten ausrechnete. So generierte zum Beispiel das Projekt Othersidevon Yuga Labs innerhalb der ersten vier Tage einen CO2-Fußabdruck von 10.600 Flügen von London nach New York. Das einmalige Trainieren eines KI-Modells wie etwa GTP-3 verbrauche so viel wie ein Auto auf 700.000 Kilometern. Das ist 17 Mal um die Erde gefahren. Jetzt wird so ein Modell aber immer wieder neu trainiert. Und jeder will jetzt ja auch sein eigenes Modell haben. Wir kommen hier also in Größen, die durchaus relevant sind. Wir müssen dringend darüber sprechen, ob wir es nicht schaffen könnten in Europa eine Regulierung zu haben, die hilft sich vom Energiehunger abzusetzen, so dass KI-Modelle entstehen, die zu berechnen eine Smartphone-Akkuladung brauchen. Let’s do it!

Zum Abschluss gehe ich noch auf den letzten Artikel zum Thema Kunst und KI ein. In „Wie Maschinen träumen lernen“ betreten wir wieder den Bereich der Schwammigkeit. Maschinen träumen nicht. Sie spielen nicht mit unseren Erinnerungen. Es sind die Menschen, die diese Maschinen bauen und benutzen, die über das Medium mit unseren Träumen und Erinnerungen spielen. Die Künstler:innen in diesem Artikel erzählen uns davon, wie sie das tun. Mit meterhohen Bewegtbildinstallationen, Musik, die wie Beethoven klingt und Texte, die sich wie französische Schriftstellerinnen lesen. Der Artikel an sich wirft ein paar Fragen auf, das ist gut. Inwiefern kann ein Programm Beethoven ersetzen? Niemals! Also was macht es? Es lobt das, was Beethoven geschaffen hat. Denn es kann nur auf das zurückgreifen, was schon da ist.

Gerne hätte ich zum Thema Kunst und KI einen Kommentar von Peter Weibel, ehemaliger Leiter des ZKM in Karlsruhe gelesen. Leider verstarb der Künstler und Kurator erst vor wenigen Tagen (der Spiegel berichtete). Am 14. Mai 2021 sprach ich mit ihm für FutureFuture im Zuge der Ausstellung „Die Vergangenheit der Zukunft“ im ZKM darüber, was digitale Kunst über die Zukunft sagen kann. Ich lernte: Der Mensch ist in der Lage über ein Kunstwerk über sich und seine Zukunft zu reflektieren. Was wollen uns also Kunstwerke, die mit KI erstellt wurden, über uns selbst sagen? Das herauszufinden bedeutet sich mit dem Kunstwerk selbst zu beschäftigen. Eine Möglichkeit habe ich demnächst: Seit gestern stellt der in diesem Artikel vorgestellte Künstler Refik Anadol in Düsseldorf aus. Ein Besuch ist geplant!

Fazit

Wie lässt sich das Titelthema des Spiegels zusammenfassen? Der Leitartikel kann leider weg. Er reflektiert zu wenig, erklärt zu wenig, er polemisiert: Silicon Valley, Deutschlands Beziehung zu Tech, das Verhältnis Mensch und Maschine, China gegen den Rest der Welt. Die Erkenntnisgewinne gehen über das Kennenlernen und Erinnern flacher Narrative nicht hinweg.

Das Meckern über Regulierung und die Angst der Deutschen ödet mich zudem an. Will man einen Grund für den Abstand zwischen Europa, Deutschland und dem Rest der Welt finden, so will ich sagen: Dieser Artikel hat nichts dafür getan, diesen Abstand kleiner zu machen. Stattdessen betoniert er vorhandene Vorurteile und Ressentiments. Wenn die Berichterstattung großer Publikationen über Tech in Deutschland nicht so schlecht wäre, würde vielleicht auch das Führungspersonal ein bisschen mehr Lust verspüren etwas zu tun. So bleibt mir nur festzustellen, dass nicht nur die deutsche Digitallandschaft, sondern auch die deutsche Verlagslandschaft hinter ihren Möglichkeiten zurückgeblieben ist. Vielleicht hat das auch ein bisschen was miteinander zu tun.

Eine Bitte habe ich noch, weil bisher noch niemand auf die Idee kam, sich das Titelbild von einer KI generieren zu lassen: Wenn ihr das schon macht, dann lasst euch doch bitte irgendwas cooles einfallen.

Solltet ihr den Spiegel kaufen und lesen? Ja, und zwar nicht nur wegen der drei übrigen Artikel, sondern auch wegen der anderen Artikel. Gelungen fand ich zum Beispiel den Kommentar von Markus Feldenkirchen „Morbus Verbotus“, der den wiederentdeckten Drang zur Freiheit auf die Schippe nimmt.

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